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Diebstahl geringwertiger Sachen kann auch bei langer Betriebszugehörigkeit fristlose Kündigung rechtfertigen

Entwendet der Filialleiter eines Einzelhandelsunternehmens Ware oder besteht der dringende Verdacht einer solchen Tat, so rechtfertigt dies eine fristlose Kündigung. Das gilt selbst dann, wenn die Ware nur einen vergleichsweise geringen Wert hat und der Arbeitnehmer seit vielen Jahren in dem Betrieb beschäftigt ist. Im Rahmen der Interessenabwägung kann zum Nachteil des Arbeitnehmers zu berücksichtigen sein, dass er die Tat zunächst geleugnet hat.

Der Filialleiter war seit knapp 21 Jahren bei dem Einzelhandelsunternehmen tätig. Er nahm an einem Tag einen Beutel Streusand aus der Filiale mit, ohne ihn zu bezahlen; zwei Tage später wurde der Kläger beim Verlassen der Filiale mit unbezahlten Waren im Wert von 12,02 € angetroffen. Das Einzelhandelsunternehmen kündigte das Arbeitsverhältnis daraufhin fristlos, ohne zuvor eine Abmahnung auszusprechen.

Die Kündigungsschutzklage des Filialleiters blieb auch vor dem Landesarbeitsgericht ohne Erfolg. Es bestehe der dringende Verdacht, dass sich der Filialleiter in zwei Fällen widerrechtlich Sachen im Eigentum der Arbeitgeberin habe aneignen wollen. Mit diesem Verhalten habe der Filialleiter das während seiner langjährigen Tätigkeit aufgebaute Vertrauen in seine Rechtschaffenheit endgültig zerstört. Es könne der Arbeitgeberin deshalb nicht zugemutet werden, das Arbeitsverhältnis auch nur bis zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist fortzusetzen, zumal der Filialleiter einen für den Verdacht wesentlichen Umstand zunächst in Abrede gestellt habe. Dass es sich um Sachen von geringem Wert gehandelt habe, sei ohne Bedeutung.

Das Landesarbeitsgericht hat die Revision an das Bundesarbeitsgericht nicht zugelassen.

 

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 10.02.2012, – 6 Sa 1845/11 –

Quelle: LAG Berlin-Brandenburg PM Nr. 10 vom 07.03.2012

 

Anm. d. Verfassers: Der Fall erinnert an die berühmte „Emmely“-Entscheidung, die Sie weiter unten in unseren Nachrichten finden. Ein wesentlicher Unterschied zu „Emmely“ dürfte aber darin liegen, dass es sich bei der Filialleitung um eine herausgehobene Vertrauensposition handelt. Auch belief sich der Schaden des Arbeitgebers nicht lediglich auf Cent-Beträge.

Entschädigung wegen Benachteiligung eines schwerbehinderten Bewerbers

Ein öffentlicher Arbeitgeber hat nach § 82 Satz 2 SGB IX einen schwerbehinderten Menschen, der sich auf eine ausgeschriebene Stelle unter Mitteilung seiner Schwerbehinderteneigenschaft beworben hat, zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen, es sei denn, diesem fehlt offensichtlich die fachliche Eignung für die ausgeschriebene Stelle. Eine unterbliebene Einladung ist ein Indiz für die Vermutung, der Bewerber sei wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt worden. Diese Vermutung kann der öffentliche Arbeitgeber durch den Beweis widerlegen, dass für die Nichteinladung nur solche Gründe vorgelegen haben, welche nicht die fehlende Eignung des Bewerbers oder dessen Schwerbehinderung betreffen.

Der schwerbehinderte Kläger hatte sich bei der Beklagten auf eine Ausschreibung der Bundespolizeidirektion Flughafen Frankfurt am Main als „Pförtner/Wächter“ beworben. In seiner Bewerbung hatte er auf seinen GdB von 60 hingewiesen. Bei der Beklagten besteht eine Rahmenvereinbarung zur Integration Schwerbehinderter. Nach dieser Integrationsvereinbarung kann von einer Einladung schwerbehinderter Bewerber zum Auswahlverfahren abgesehen werden, wenn zwischen Zentralabteilung, Schwerbehindertenvertretung und Gleichstellungsbeauftragter Einvernehmen besteht, dass der Bewerber für den freien Arbeitsplatz nicht in Betracht kommt. Die Bundespolizeidirektion sah im Einvernehmen mit den zu beteiligenden Stellen von einer Einladung des Klägers zu einem Vorstellungsgespräch ab. Dieser sieht sich durch diese Nichteinladung wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt und verlangt von der Beklagten eine Entschädigung in Höhe von 5.723,28 Euro.

Das Landesarbeitsgericht hat die Beklagte zur Zahlung einer Entschädigung von 2.700,00 Euro verurteilt. Die Revision der Beklagten blieb vor dem Achten Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolglos.

Die Bundespolizeidirektion hätte den Kläger zu einem Vorstellungsgespräch einladen müssen, weil durch die Integrationsvereinbarung das Recht des schwerbehinderten Bewerbers auf ein Vorstellungsgespräch nicht eingeschränkt werden sollte. Deshalb besteht die Vermutung, dass der Kläger wegen seiner Schwerbehinderung benachteiligt worden ist. Diese Vermutung hat die Beklagte nicht durch Tatsachen widerlegt, die keinen Bezug zur Schwerbehinderung des Klägers und zu dessen fachlicher Eignung haben. Nur auf solche hätte sich die Beklagte mit Erfolg berufen können, weil § 82 Satz 3 SGB IX hinsichtlich der Verpflichtung des öffentlichen Arbeitgebers zur Einladung schwerbehinderter Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch abschließenden Charakter hat. Die gegen die Höhe der ausgeurteilten Entschädigung gerichtete Revision des Klägers hat der Senat aus formalen Gründen als unzulässig verworfen.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 16.02.2012, – 8 AZR 697/10 –

Quelle: BAG PM Nr. 13/2012

Verlängerung der Elternzeit nur bei Zustimmung des Arbeitgebers

Nach § 16 Abs. 1 Satz 1 BEEG müssen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die Elternzeit in Anspruch nehmen wollen, gegenüber dem Arbeitgeber erklären, für welche Zeiten innerhalb von zwei Jahren Elternzeit genommen werden soll. Eine damit festgelegte Elternzeit kann der Arbeitnehmer gemäß § 16 Abs. 3 Satz 1 BEEG nur verlängern, wenn der Arbeitgeber zustimmt.

Die Klägerin ist seit 2005 bei der Beklagten als Arbeiterin in Vollzeit beschäftigt. Am 3. Januar 2008 gebar sie ihr fünftes Kind und nahm deshalb bis 2. Januar 2009 Elternzeit in Anspruch. Mit Schreiben vom 8. Dezember 2008 bat sie die Beklagte erfolglos, der Verlängerung ihrer Elternzeit um ein weiteres Jahr zuzustimmen. Sie berief sich auf ihren Gesundheitszustand. Nachdem die Klägerin ab dem 5. Januar 2009 ihre Arbeit nicht wieder aufnahm, erteilte ihr die Beklagte eine Abmahnung wegen unentschuldigten Fehlens. Das Arbeitsgericht hat die Beklagte verurteilt, der Verlängerung der Elternzeit zuzustimmen und die Abmahnung aus der Personalakte der Klägerin zu entfernen. Das Landesarbeitsgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Es hat die Auffassung vertreten, der Arbeitgeber dürfe die Zustimmung zur Verlängerung der Elternzeit bis zur Grenze des Rechtsmissbrauchs frei verweigern. Die Beklagte habe nicht rechtsmissbräuchlich gehandelt. Die Abmahnung sei berechtigt gewesen, da die Klägerin unentschuldigt der Arbeit fern geblieben sei.

Die Revision der Klägerin hat vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts Erfolg und führt zur Zurückverweisung an das Landesarbeitsgericht. Der Arbeitgeber muss nach billigem Ermessen entsprechend § 315 Abs. 3 BGB darüber entscheiden, ob er der Verlängerung der Elternzeit zustimmt. Hierzu hat das Landesarbeitsgericht noch tatsächliche Feststellungen zu treffen. Es wird dann erneut darüber zu entscheiden haben, ob die Abmahnung aus der Personalakte zu entfernen ist.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 18.10.2011, – 9 AZR 315/10 –

Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg – Kammern Freiburg – Teilurteil vom 14.04.2010, – 10 Sa 59/09 –

Quelle: Bundesarbeitsgericht PM Nr. 80/2011

Stellenanzeige „Geschäftsführer gesucht“ führt zu geschlechtsbezogener Benachteiligung und damit zu einem Entschädigungsanspruch

Das Oberlandesgericht Karlsruhe sprach mit Urteil vom 13.09.2011 einer Rechtsanwältin eine Entschädigung zu, die sich vergeblich auf eine Stellenanzeige „Geschäftsführer gesucht“ beworben hatte.

Die Beklagte ist ein mittelständisches Unternehmen. In ihrem Auftrag gab eine Rechtsanwaltskanzlei 2007 in den Badischen Neuesten Nachrichten nacheinander zwei Stellenanzeigen folgenden Inhalts auf:

„Geschäftsführer im Mandantenauftrag zum nächstmöglichen Eintrittstermin gesucht für mittelständisches … Unternehmen mit Sitz im Raum Karlsruhe. Fähigkeiten in Akquisition sowie Finanz- und Rechnungswesen sind erforderlich, Erfahrungen in Führungspositionen erwünscht. Frühere Tätigkeiten in der Branche nicht notwendig…“

Die auch als Rechtsanwältin zugelassene Klägerin war bereits 20 Jahre bei Versicherungsunternehmen tätig gewesen, zuletzt als Personalleiterin. Nachdem ihre Bewerbung nicht berücksichtigt worden war, meldete sie umgehend Entschädigungsansprüche in Höhe von knapp 25.000,00 € an und begehrte Auskunft über den Auftraggeber der Stellenanzeige. Den benannte die Rechtsanwaltskanzlei erst, nachdem sie vom Landgericht Karlsruhe im April 2008 dazu verurteilt worden war. Die danach erhobene Klage der Rechtsanwältin gegen das ausschreibende Unternehmen auf Entschädigung wegen geschlechtsbezogener Benachteiligung im Bewerbungsverfahren ist vom Landgericht Karlsruhe mit Urteil vom 22.03.2010 zurückgewiesen worden.

Die Berufung der Klägerin zum Oberlandesgericht Karlsruhe – 17. Zivilsenat – hatte teilweise Erfolg.

Mit dem am 13.09.2011 verkündeten Urteil hat der Senat der Klägerin eine Entschädigung in Höhe von ca. 13.000,00 € zugesprochen, die Klage im Übrigen abgewiesen. Der Senat hat ausgeführt, dass die Stellenausschreibung gegen das Benachteiligungsverbot des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (§ 7 AGG) verstoße. Aufgrund dieses Verbotes dürfe nicht nach männlichen oder weiblichen Kandidaten gesucht werden. Geschlechtsneutral sei eine Ausschreibung nur formuliert, wenn sie sich in ihrer gesamten Ausdrucksweise sowohl an Frauen als auch an Männer richte. Dem sei jedenfalls dann Rechnung getragen, wenn die Berufsbezeichnung in männlicher und weiblicher Form verwendet oder ein geschlechtsneutraler Oberbegriff gewählt werde. Diesen Vorgaben genüge die Stellenausschreibung hier nicht, da der Begriff „Geschäftsführer“ eindeutig männlich sei und weder durch den Zusatz „/in“ noch durch die Ergänzung „m/w“ erweitert werde. Dieser männliche Begriff werde auch im weiteren Kontext der Anzeige nicht relativiert. Das AGG selbst spreche dagegen ausdrücklich von „Geschäftsführern und Geschäftsführerinnen“.

Dass die Stellenanzeige nicht von dem beklagten Unternehmen, sondern von der Rechtsanwaltskanzlei formuliert worden sei, ändere nichts; bediene sich der Arbeitgeber nämlich zur Stellenausschreibung eines Dritten, so sei ihm dessen Verhalten in aller Regel zuzurechnen. Den Arbeitgeber treffe die Sorgfaltspflicht, die Ordnungsgemäßheit der Ausschreibung zu überwachen.

Diese nicht geschlechtsneutrale Stellenausschreibung führe gemäß § 22 AGG dazu, dass eine Benachteiligung wegen des Geschlechts vermutet werde und deshalb das ausschreibende Unternehmen nachweisen müsse, dass die Klägerin nicht wegen ihres Geschlechts benachteiligt worden sei, dass also das Geschlecht der Klägerin bei der Auswahl überhaupt keine Rolle gespielt habe. Die Beklagte habe allerdings die maßgeblichen Erwägungen für ihre Auswahl nicht dargelegt. Die Tatsache, dass eine weibliche Bewerberin zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen worden sei, vermöge die Vermutung allein nicht zu widerlegen. Auch der Einwand der Beklagten, die Klägerin sei nicht wegen ihres Geschlechts, sondern wegen der mangelnden Akquisitionserfahrung nicht eingeladen worden, könne die Vermutung nicht widerlegen. Damit sei nämlich nicht belegt, dass das Geschlecht neben der möglicherweise fehlenden Akquisitionserfahrung der Klägerin bei der Entscheidung keine Rolle gespielt habe.

Eine Benachteiligung der Klägerin sei auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil ihre Bewerbung subjektiv nicht ernst gemeint, sondern ausschließlich auf Erlangung einer Entschädigung gerichtet gewesen wäre. Die Beklagte habe keine ausreichenden Indizien für eine missbräuchliche Bewerbung der Klägerin dargelegt. Die Klägerin sei vielmehr nur nebenberuflich als Rechtsanwältin zugelassen gewesen, sie habe sich beruflich verändern wollen und sei mittlerweile bei einem Unternehmen auch im Bereich Kundenbetreuung und Akquisition tätig. Es sei auch nicht erkennbar, dass sie für die ausgeschriebene Stelle völlig ungeeignet oder über- bzw. unterqualifiziert gewesen wäre.

Die Klägerin habe deshalb einen Anspruch auf eine angemessene Entschädigung gemäß § 15 Abs. 2 AGG, insoweit halte der Senat eine Entschädigung im Umfang eines Monatsgehaltes, hier ca. 13.000,00 €, für angemessen. Für die Höhe sei unter anderem ausschlaggebend, dass sie auch abschreckende Wirkung haben müsse, also geeignet sein müsse, den Arbeitgeber künftig zu ordnungsgemäßer Erfüllung seiner Pflichten nach dem AGG anzuhalten und Dritte von ähnlichen Verstößen abzuhalten. Den europarechtlichen Vorgaben würde die Verhängung von Bagatellbeträgen nicht genügen. Hier sei auch zu berücksichtigen, dass die diskriminierende Anzeige zweimal erschienen sei und die Klägerin zunächst die Anwaltskanzlei habe gerichtlich auf Auskunft in Anspruch nehmen und sogar die Zwangsvollstreckung einleiten müssen, bevor sie ihre Entschädigungsansprüche gegenüber der Beklagten habe anmelden können. Andererseits seien außer der Überschrift „Geschäftsführer“ keine weiteren Diskriminierungen oder Beeinträchtigungen der Klägerin erkennbar.

Die Revision wurde nicht zugelassen.

OLG Karlsruhe v. 13.09.2011, – 17 U 99/10 –

Quelle: OLG Karlsruhe PM vom 16.9.2011

Zur Befristung von Urlaubsansprüchen aus früheren Zeiträumen (hier: nach mehrjähriger Arbeitsunfähigkeit)

Gemäß § 7 Abs. 3 Satz 1 BUrlG muss der Erholungsurlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden. Eine Übertragung des Urlaubs auf das nächste Kalenderjahr ist nach § 7 Abs. 3 Satz 2 BUrlG nur statthaft, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahrs gewährt und genommen werden (§ 7 Abs. 3 Satz 3 BUrlG).

Die Parteien verbindet seit 1991 ein Arbeitsverhältnis. Der jährliche Urlaubsanspruch des Klägers beträgt 30 Arbeitstage. Der Kläger war im Zeitraum vom 11. Januar 2005 bis zum 6. Juni 2008 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt und nahm danach die Arbeit wieder auf. Im weiteren Verlauf des Jahres 2008 gewährte die Beklagte dem Kläger an 30 Arbeitstagen Urlaub. Der Kläger begehrt die gerichtliche Feststellung, dass ihm gegen die Beklagte ein aus den Jahren 2005 bis 2007 resultierender Anspruch auf 90 Arbeitstage Urlaub zusteht.

Die Klage hatte vor dem Neunten Senat – ebenso wie schon in den Vorinstanzen – keinen Erfolg. Der von dem Kläger erhobene Urlaubsanspruch ging spätestens mit Ablauf des 31. Dezember 2008 unter. Mangels abweichender einzel- oder tarifvertraglicher Regelungen verfällt der am Ende des Urlaubsjahrs nicht genommene Urlaub, sofern kein Übertragungsgrund nach § 7 Abs. 3 BUrlG vorliegt. Dies ist jedenfalls in den Fällen anzunehmen, in denen der Arbeitnehmer nicht aus von ihm nicht zu vertretenden Gründen, etwa aufgrund von Arbeitsunfähigkeit, an der Urlaubnahme gehindert ist. Übertragene Urlaubsansprüche sind in gleicher Weise befristet. Wird ein zunächst arbeitsunfähig erkrankter Arbeitnehmer im Kalenderjahr einschließlich des Übertragungszeitraums so rechtzeitig gesund, dass er – wie hier – in der verbleibenden Zeit seinen Urlaub nehmen kann, erlischt der aus früheren Zeiträumen stammende Urlaubsanspruch genau so wie der Anspruch, der zu Beginn des Urlaubsjahrs neu entstanden ist. Der Senat hat die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang Arbeitnehmer Urlaubsansprüche über mehrere Jahre ansammeln können, offengelassen.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 09.08.2011 – 9 AZR 425/10 –

Quelle: BAG PM Nr. 64/11 vom 09.08.2011

Übergriffe auf Schutzbefohlene durch Mitarbeiter rechtfertigen nicht ohne weiteres die Kündigung des Vorgesetzten

Die Klägerin war seit dem 01.04.1993 zunächst als Psychologin und ab 2005 als Bereichsleiterin für fünf Wohngruppen mit vierzig Mitarbeitern für die Beklagte, einer gemeinnützigen Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung, tätig. Die Betreuung in einer Wohngruppe orientierte sich an einem sog. „Intra-act-plus-Konzept“, welches als Reaktion auf fremdaggressives Verhalten differenzierte Belohnungs- und Bestrafungstypen vorsieht. Im Rahmen dieses Konzepts kam es im April und Mai 2008 zu massiven Übergriffen und Misshandlungen anvertrauter Schutzbefohlener durch Mitarbeiter der Beklagten. Hieran war die Klägerin nicht beteiligt. Die Beklagte hat der Klägerin aber vorgeworfen, ihren Kontrollpflichten als zuständiger Bereichsleiterin nicht nachgekommen zu sein, um die „erzieherischen“ Grenzüberschreitungen zu unterbinden. Sie habe nach dem Vortrag der Beklagten zudem jedenfalls zunächst Kenntnis von den Vorfällen gehabt, ohne die Geschäftsleitung zu informieren. Spätestens am 26.05.2008 informierte die Klägerin die damalige Geschäftsführung. Die mittlerweile neue Geschäftsführung der Beklagten hat die Vorfälle im August 2009 untersucht und als Ergebnis die Klägerin mit Schreiben vom 30.09.2009 fristlos, hilfsweise mit sozialer Auslauffrist zum 31.03.2010 gekündigt.

Wie schon erstinstanzlich das Arbeitsgericht Düsseldorf hat das Landesarbeitsgericht Düsseldorf im Berufungsverfahren der Klage auf Feststellung der Unwirksamkeit der Kündigung stattgegeben. Der Klägerin konnte nicht nachgewiesen werden, dass sie vor Unterrichtung der damaligen Geschäftsleitung positive Kenntnis von den Vorfällen hatte. Ob sie gegen ihre Kontrollpflichten verstieß, ließ das Landesarbeitsgericht offen. Es hätte insoweit vor Ausspruch einer Kündigung einer Abmahnung bedurft. Der parallel gestellte Weiterbeschäftigungsantrag wurde jedoch zurückgewiesen. Die Weiterbeschäftigung der Klägerin ist derzeit aufgrund einer inzwischen ergangenen öffentlich-rechtlichen Auflage des Landschaftsverbands Rheinland an die Beklagte, die Klägerin bis zum Abschluss der strafrechtlichen Ermittlungen nicht zu beschäftigen, rechtlich nicht möglich. Das Landesarbeitsgericht hat die Revision nicht zugelassen.

LAG Düsseldorf, Urteil vom 15.02.2011, – 16 Sa 1016/10 –

Quelle: LAG Düsseldorf PM Nr. 13/11 vom 15.02.2011

Arbeitgeber dürfen auch ohne besonderen Anlass bereits ab dem ersten Krankheitstag ein ärztliches Attest fordern

Ist ein Arbeitnehmer arbeitsunfähig erkrankt, muss er gemäß § 5 Abs. 1 S. 2 Entgeltfortzahlungsgesetz (EFZG) spätestens nach drei Kalendertagen eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung beim Arbeitgeber vorlegen. Der Arbeitgeber ist jedoch berechtigt, die Vorlage schon früher zu verlangen (§ 5 Abs. 1 S. 3 EFZG). Es ist bislang unter Juristen umstritten, ob der Arbeitgeber dafür einen besonderen Anlass braucht.

Das hat das Landesarbeitsgericht Köln in einem jetzt veröffentlichten Urteil verneint. Das Verlangen des Arbeitgebers, eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung schon ab dem ersten Tag der Krankheit vorzulegen, bedarf danach weder einer Begründung noch ist die Aufforderung des Arbeitgebers vom Gericht auf „billiges Ermessen“ zu überprüfen. Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage wurde die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen.

In dem vom LAG Köln entschiedenen Fall hatte sich eine Arbeitnehmerin für den Tag krank gemeldet, für den sie vorher vergeblich eine Dienstreise beantragt hatte. Der Arbeitgeber hatte sie daraufhin aufgefordert, künftig am ersten Tag der Krankmeldung ein ärztliches Attest einzuholen und vorzulegen. Die Arbeitnehmerin sah das als sachlich ungerechtfertigt an.

LAG Köln, Urteil vom 14.09.2011, – 3 Sa 597/11 –

Quelle: LAG Köln PM Nr. 8 vom 14.12.2011

Freistellung schützt Arbeitnehmer nicht vor einer fristlosen Kündigung

Im Falle einer schwerwiegenden Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten kommt auch bei einem von der Arbeitspflicht bis zum vereinbarten Beendigungstermin freigestellten Arbeitnehmer eine außerordentliche Kündigung in Betracht.Dies hat das Hessische Landesarbeitsgericht entschieden und damit ein Urteil des Arbeitsgerichts Frankfurt am Main abgeändert.

Der 36- jährige, verheiratete Kläger des Rechtsstreits war seit Oktober 2008 bei seiner Arbeitgeberin, einer Bank aus Düsseldorf, als Firmenkundenbetreuer tätig, seit April 2009 mit Prokura. Am 16.06.2010 vereinbarten die Parteien die Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses zum 31.12.2010 und die Freistellung des Klägers ab 01.07.2010 bis 31.12.2010 bei Fortzahlung der Bezüge.

Am 29./30.06.2010 übermittelte der Kläger insgesamt 94 E-mails mit ca. 622 MB in 1660 Dateianhängen an sein privates E-Mail Postfach bei gmx.de. Dabei handelte es sich überwiegend um Daten, die dem Bankgeheimnis unterliegen, darunter Daten der vom Kläger betreuten Kunden; Dokumente, in denen die einem Unternehmen eingeräumten Kreditlinien und in Anspruch genommenen Kredite aufgelistet werden; Risikoanalysen für diverse Unternehmen, Kreditverträge u.ä.

Hiervon erfuhr die Beklagte am 07.07.2010 durch ihre Datenschutzkommission. Am 20.07.2010 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger fristlos.Die hiergegen erhobene Klage hatte vor dem Arbeitsgericht Erfolg. Das Hessische Landesarbeitsgericht hat das Urteil abgeändert und die Klage abgewiesen.

Es ist der Ansicht gewesen, der Kläger habe eine schwerwiegende Vertragsverletzung begangen, die die fristlose Kündigung auch in einem tatsächlich nicht mehr vollzogen Arbeitsverhältnis rechtfertige. Zwar komme es zur Begründung einer fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses regelmäßig auf die Prognose zukünftigen Verhaltens an. Hier stehe die fehlende Wiederholungsgefahr aber nicht entgegen. Der Kläger habe das in ihn gesetzte Vertrauen seiner Arbeitgeberin durch die Mitnahme geheim zu haltender Bankdaten so schwer erschüttert, dass ihr das Festhalten an dem Arbeitsverhältnis und die Fortzahlung der Bezüge bis Dezember 2010 nicht mehr zumutbar seien. Das Fehlverhalten des Klägers habe ein nahezu gleich großes Gewicht wie eine strafbare Handlung zulasten des Arbeitgebers.Die Einlassung des Klägers, er habe die Daten auf seinem Rechner nicht an Dritte weitergeben wollen und sie während der Zeit der Freistellung nur zu Trainingszwecken verwenden wollen, wertete das Hessische Landesarbeitsgericht als unbeachtliche Schutzbehauptung.

Landesarbeitsgericht Hessen, Urteil vom 29.08.2011, – 7 Sa 248/11 –

Quelle: Hessisches LAG PM Nr. 14 vom 06.12.2011

Private Trunkenheitsfahrt kann bei Kraftfahrern eine Kündigung rechtfertigen

Das Hessische Landesarbeitsgericht hat entschieden, dass ein Kraftfahrer, der bei einer privaten Autofahrt mit einer Blutalkoholkonzentration von 1,36 Promille ertappt wird, seinen Arbeitsplatz verlieren kann.

Der 1960 geborene, verheiratete Kläger arbeitete seit 1997 bei seinem Arbeitgeber als Kraftfahrer. Er ist mit einem Grad von 50 schwerbehindert und wiegt bei einer Körpergröße von 192 cm nur 64 kg. Ab Herbst 2009 war er arbeitsunfähig erkrankt. Im Mai 2010 begann eine Wiedereingliederung, die bis Juni 2010 dauern sollte.Anfang Juni 2010 wurde der Kläger bei einer privaten Autofahrt mit 1,36 Promille Alkohol im Blut von der Polizei kontrolliert. Ihm wurde der Führerschein entzogen. Es erging außerdem ein Strafbefehl.

Im Juli 2010 kündigte der Arbeitgeber deshalb ordentlich zum 30. 09. 2010. Mit der dagegen erhobenen Klage wandte der Arbeitnehmer ein, er habe wegen seiner Erkrankung und seines extremen Untergewicht vor der Trunkenheitsfahrt nicht einschätzen können, wie sich die Alkoholkonzentration in seinem Blut entwickeln würde. Außerdem sei kein Schaden entstanden. Seit Juni 2011 sei er auch wieder im Besitz einer Fahrerlaubnis.

Dies ließen das Hessische Landesarbeitsgericht wie auch die Vorinstanz nicht gelten. Wer als Kraftfahrer seine Fahrerlaubnis verliert, müsse sogar mit der fristlosen Kündigung des Arbeitsverhältnisses rechnen. Die Erbringung der geschuldeten Arbeitsleistung sei unmöglich geworden. Die Erkrankung des Klägers und sein Untergewicht wie auch seine lange Beschäftigungszeit stünden einer Kündigung nicht entgegen. Als langjähriger Kraftfahrer müsse der Kläger um die tatsächlichen und rechtlichen Risiken des Alkoholkonsums im Straßenverkehr wissen. Besonders unverantwortlich war nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts, dass der Kläger sich trotz gerade überstandener schwerer Erkrankung und extremen Untergewichts alkoholisiert in den Straßenverkehr begeben hat. Auf die Entstehung eines Schadens komme es nicht an. Ohne Bedeutung war auch die Tatsache, dass der Kläger inzwischen wieder im Besitz einer Fahrerlaubnis ist. Es komme auf den Zeitpunkt der Kündigungserklärung an. Zu diesem Zeitpunkt sei gänzlich ungewiss gewesen, ob und wann der Kläger seine Fahrerlaubnis zurückerhalte. Das Arbeitsverhältnis hätte jedenfalls neun Monate nicht durchgeführt werden können. Das genüge, um das Arbeitsverhältnis mit ordentlicher Frist zu beenden.

Landesarbeitsgericht Hessen, Urteil vom 01.07.2011, – 10 Sa 245/11 –

Quelle: Hessisches LAG PM Nr. 12 vom 10.10.2011

Erhebliches Überziehen der Pausenzeiten kann fristlose Kündigung rechtfertigen

Nach einer Entscheidung des Hessischen Landesarbeitsgerichts darf ein Flugsicherungsunternehmen einen Fluglotsen fristlos kündigen, der seine Pausen nachts mehrfach um 20 Minuten bis eine Stunde überzieht und dadurch sein Arbeitsplatz im Tower unbesetzt bleibt.

Der 35-jährige Kläger des Rechtsstreits ist Fluglotse und war seit April 2001 beschäftigt. Ab 1. April 2004 war er im Tower eines süddeutschen Flughafens eingesetzt. In der Nachtschicht ist dort nach den einschlägigen Vorschriften zur Flugsicherung eine Besetzung von zwei Fluglotsen vorgeschrieben. Die Pausen von je zwei Stunden sind abzusprechen. Jeder Fluglotse muss auch in der Pause erreichbar bleiben. Nach Videoaufzeichnungen konnte im Nachhinein rekonstruiert werden, dass der Kläger entgegen seinen Eintragungen im Arbeitsplatznachweis an vier Nächten im August 2009 und in einer Nacht im September 2009 die Towerkanzel länger als zwei Stunden verlassen hatte und die Pausen einmal um 20 Minuten, einmal um 45 Minuten und zweimal um etwa eine Stunde überzogen hatte.

Im September 2009 erklärte die Arbeitgeberin dem Kläger deshalb die fristlose Kündigung. Das Arbeitsgericht hielt die Kündigung für unwirksam. Die dagegen gerichtete Berufung der Arbeitgeberin hatte Erfolg. Das Hessische Landesarbeitsgericht hielt die Kündigung für wirksam. Insbesondere habe es einer vorherigen Abmahnung des Klägers nicht bedurft.

Die Berufungskammer kam zu der Überzeugung, dass der Kläger allein „um seiner Bequemlichkeit zu frönen“, seinen Arbeitsplatz übermäßig lange verlassen und damit die Sicherheit des Luftverkehrs akut gefährdet hat. Dem Kläger sei aus einschlägigen Vorschriften und entsprechenden briefings bekannt gewesen, welche Risiken entstehen können, wenn nicht genügend Fluglotsen am Platz sind. Der Kläger habe gewusst, dass es gerade deshalb sechs Wochen zuvor nachts zu einer gefährlichen Annäherung zweier Flugzeuge auf dem Flughafen Frankfurt am Main gekommen war. Erschwerend komme hinzu, dass der Kläger seinen Arbeitsplatznachweis falsch ausgefüllt habe und so den Eindruck erwecken wollte, er habe die Pausen vorschriftsmäßig genommen.

Damit hatte – so das Hessische Landesarbeitsgericht – die Arbeitgeberin das Recht, den Kläger fristlos zu kündigen. Für die Beschäftigung eines Fluglotsen sei das Vertrauen in seine Zuverlässigkeit unabdingbar. Die Arbeitgeberin habe darauf vertrauen dürfen, dass der Kläger seinen Arbeitsplatz entsprechend den Vorschriften ausfüllt und dies zutreffend dokumentiert. Dies gelte insbesondere für die Nachtstunden, in denen eine Kontrolle faktisch entfällt. Die Pflichtverletzung sei so krass, dass – anders als im Regelfall – hier eine vorherige Abmahnung überflüssig gewesen sei, um den Kläger zu vertragstreuem Verhalten anzuleiten. Dem Kläger sei klar gewesen, dass seine Arbeitgeberin diese Vertragsverstöße keinesfalls hinnehmen würde.

Hessisches Landesarbeitsgericht, Urteil vom 24.11.2010, – 8 Sa 492/10 –

Quelle: Hessisches LAG PM Nr. 5 vom 25.07.2011

Festlegung einer durchschnittlichen Stundenzahl pro Monat im Formulararbeitsvertrag kann unwirksam sein

Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen können den Arbeitnehmer unangemessen benachteiligen, wenn sie nicht klar und verständlich sind (§ 307 Abs. 1 Satz 1 und 2 BGB). Unter den in § 9 TzBfG genannten Voraussetzungen hat ein teilzeitbeschäftigter Arbeitnehmer einen Anspruch auf die Verlängerung seiner vertraglich vereinbarten Arbeitszeit.

Die Beklagte, ein Unternehmen des Wach- und Sicherheitsgewerbes, beschäftigt den Kläger als Flugsicherungskraft am Flughafen Köln/Bonn. Der Formulararbeitsvertrag der Parteien sieht ua. folgende Regelung vor: „Der Angestellte ist verpflichtet, im monatlichen Durchschnitt 150 Stunden zu arbeiten …“ Der allgemeinverbindliche Manteltarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe in Nordrhein-Westfalen vom 8. Dezember 2005 sieht für Vollzeitbeschäftigte eine Mindestarbeitszeit von 160 Stunden im Monat vor. Der Kläger, der in der Vergangenheit durchschnittlich 188 Stunden im Monat arbeitete, begehrt die Feststellung, dass seine monatliche Regelarbeitszeit dem tatsächlichen Beschäftigungsumfang entspricht, hilfsweise verlangt er von der Beklagten, seine regelmäßige Arbeitszeit zu erhöhen. Während das Arbeitsgericht der Klage dem Hauptantrag nach stattgegeben hat, hat das Landesarbeitsgericht die Beklagte lediglich nach dem Hilfsantrag verurteilt, das Angebot des Klägers insoweit anzunehmen, als er die Erhöhung der Arbeitszeit auf 160 Stunden fordert.

Der Neunte Senat hat die erstinstanzliche Entscheidung teilweise wiederhergestellt. Die arbeitsvertragliche Arbeitszeitregelung ist wegen Intransparenz unwirksam. Ihr ist nicht zu entnehmen, innerhalb welchen Zeitraums der Arbeitgeber den Arbeitnehmer mit durchschnittlich 150 Stunden im Monat beschäftigen muss. Deshalb bleibt der Arbeitnehmer über den Umfang seiner Beschäftigung im Unklaren. An die Stelle der unwirksamen Bestimmung tritt die manteltarifvertragliche Regelung über die Mindestarbeitszeit von Vollzeitangestellten. Diese beträgt 160 Stunden im Monat. Eine weitere Erhöhung der Arbeitszeit kann der Kläger nicht verlangen. Denn er ist nicht, wie § 9 TzBfG verlangt, teilzeitbeschäftigt.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 21.06.2011, – 9 AZR 236/10 –

Vorinstanz: Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 25.01.2010, – 2 Sa 996/09 –

Quelle: BAG PM Nr. 50 vom 21.06.2011

Abmahnung wegen einer Straftat schließt spätere Kündigung wegen derselben Pflichtverletzung aus

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat die Kündigung einer Justizangestellten für unwirksam erklärt und damit eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Neuruppin bestätigt.

Die Arbeitnehmerin wurde von dem Land Brandenburg als Justizangestellte im Amtsgericht Perleberg beschäftigt und war dort u. a. für die Bearbeitung strafrechtlicher Ermittlungsverfahren zuständig. Sie teilte im Jahr 2007 der Mutter eines Betroffenen, die ebenfalls im Amtsgericht Perleberg tätig war, den Inhalt eines Durchsuchungsbeschlusses mit. Das beklagte Land erteilte der Arbeitnehmerin wegen dieses Verhaltens im Jahr 2008 eine Abmahnung und setzte das Arbeitsverhältnis fort.

Die Arbeitnehmerin wurde in einem nachfolgend eingeleiteten Strafverfahren wegen des genannten Verhaltens gemäß § 353 b StGB (Verletzung des Dienstgeheimnisses und einer besonderen Geheimhaltungspflicht) zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung verurteilt; die Verurteilung ist noch nicht rechtskräftig. Das beklagte Land kündigte daraufhin das Arbeitsverhältnis fristlos, hilfsweise fristgemäß.

Das Landesarbeitsgericht hat die Kündigungen für unwirksam gehalten. Das Verhalten der Arbeitnehmerin hätte das beklagte Land zwar berechtigt, das Arbeitsverhältnis aufzulösen. Das beklagte Land habe jedoch auf das Kündigungsrecht verzichtet, indem es eine strafbare Verletzung des Dienstgeheimnisses lediglich abmahnte. Neue Tatsachen, die die Kündigungen stützen könnten, hätten nicht vorgelegen.

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 28.04.2011, – 25 Sa 2684/10 –

Quelle: LAG Berlin-Brandenburg, PM Nr. 19/11 vom 28.04.2011

Arbeitgeber haften nur bei Vorsatz für Gesundheitsschäden wegen Arbeiten an asbesthaltigen Bauteilen

Die Anweisung an einen Arbeitnehmer, mit asbesthaltigem Material ohne Schutzmaßnahmen zu arbeiten, kann die bewusste Inkaufnahme von Gesundheitsschäden des Arbeitnehmers beinhalten.

Die Parteien streiten über einen Schadensersatzanspruch des Klägers wegen Arbeiten an asbesthaltigen Bauteilen. Der Kläger ist bei der beklagten Stadt beschäftigt. Zunächst war er als Betreuer für Asylbewerber in einem Asylbewerberheim tätig. Dort wurde er vom 01. Februar bis 05. Mai 1995 auf Weisung seines zuständigen Abteilungsleiters und des Heimleiters zu Sanierungsarbeiten herangezogen. Nach einem Hinweis darauf, dass bei diesen asbesthaltiger Staub freigesetzt werde, verfügte das Gewerbeaufsichtsamt am 05. Mai 1995 die Einstellung der Arbeiten. Der Kläger ist der Auffassung, die beklagte Stadt habe es grob fahrlässig unterlassen, ihm nötige Mittel des Arbeitsschutzes bereitzustellen. Darin liege angesichts der Erhöhung des Risikos einer Krebserkrankung ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit.

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Der Achte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen. Die beklagte Stadt haftet für mögliche Schäden, die der Kläger aufgrund der Arbeiten mit asbesthaltigen Bauteilen erleidet, nur dann, wenn der für den Kläger zuständige Vorgesetzte ihm die Tätigkeit zugewiesen hat, obwohl ihm bekannt war, dass der Kläger damit einer besonderen Asbestbelastung ausgesetzt war und wenn er eine Gesundheitsschädigung des Klägers zumindest billigend in Kauf genommen hat (sog. bedingter Vorsatz). Ob diese Voraussetzungen für eine Haftung der beklagten Stadt vorliegen, muss das Landesarbeitsgericht aufklären.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.04.2011, – 8 AZR 769/09 –

Quelle: BAG PM Nr. 34/2011

Finanzierungsberatung als vorsätzliche sittenwidrige Schädigung der Ratsuchenden

Als „grotesk“ bewertete das Oberlandesgericht Nürnberg mit Urteil vom 23.03.2011 den Vorschlag einer Finanzierungsberaterin, beim Kauf eines Hauses fehlendes Eigenkapital durch den Erwerb einer weiteren, voll finanzierten Immobilie – hier einer Eigentumswohnung – zu ersetzen. Wegen „vorsätzlicher sittenwidriger Schädigung“ muss die Beklagte nun nicht nur diesen Wohnungskauf rückgängig machen, sondern auch den Käufern Schadensersatz leisten.

Wie sich erst in der Berufungsverhandlung vor dem Oberlandesgericht herausgestellt hatte, wollten die Kläger, ein junges Ehepaar russischer Abstammung, für sich und ihre zwei kleinen Kinder ein Reihenhaus erwerben. Sie hatten auch schon ein ganz bestimmtes Objekt am südlichen Stadtrand von Nürnberg im Auge, das ihnen gefiel. Als Problem stellte sich dabei aber heraus, dass die Eheleute keinerlei Eigenkapital besaßen und auch das monatliche Familieneinkommen – der Ehemann arbeitete als Kraftfahrer, seine Frau jobbte auf 400,00 € – Basis als Verkäuferin – mit ca. 2400,00 € nicht sehr hoch bemessen war.

Hilfesuchend wandten die in geschäftlichen Dingen gänzlich unerfahrenen Kläger sich daher an die Finanzberaterin B. Diese errechnete einen Kostenaufwand von 216.000,00 € für das Reihenhaus und vermittelte zwei Darlehen über insgesamt 171.000,00 €. Zusammen mit einem weiteren Kredit über 45.000,00 €, den ihnen ein anderer Finanzberater andiente, hätte das für den ersehnten Hauskauf ausgereicht. Wenn da nicht ein Haken gewesen wäre: Nachdem die Beraterin B. weitere Gespräche geführt hatte, meinte sie, die Kläger müssten entgegen der ursprünglichen Annahme nun doch eigenes Kapital nachweisen, um von den Banken überhaupt als kreditwürdig angesehen zu werden. Dies sei aber im Ergebnis kein Problem, denn für den Eigenkapitalnachweis sei der zusätzliche Kauf einer Eigentumswohnung geradezu ideal.

Dabei traf es sich – zumindest aus Sicht der Beraterin – gut, dass sie nicht nur Finanzberatungen durchführte, sondern auch zusammen mit ihrem Ehemann für eine Liegenschaftsgesellschaft – die im hiesigen Verfahren Beklagte – Immobilien vermittelte. Schnell hatte sie daher Bilder einer Eigentumswohnung in Nürnberg zur Hand, die sie den Klägern zum – ebenfalls voll finanzierten – Kauf für 129.000,00 € anbot. Ursprüngliche Bedenken der Kläger gegen den Erwerb von gleich zwei Immobilien, ohne irgendwelche Ersparnisse zu haben, verstand sie auszuräumen. Im November 2006 war es dann soweit und man schloss einen Kaufvertrag über die Eigentumswohnung, die die Kläger, nachdem die beklagte Gesellschaft noch Renovierungsarbeiten für ca. 10.000,00 € durchgeführt hatte, ab 01.01.2007 vermieten konnten.

Bald allerdings geriet die junge Familie in finanzielle Schieflage: Während sie die Darlehensraten für ihr Reihenhaus gerade noch regelmäßig aufbringen konnte, wurde die Finanzierung der Eigentumswohnung, die weniger Miete abwarf, als für sie an die Bank monatlich zu zahlen war, notleidend. Als dann in der Wohnung auch noch Schimmel entdeckt wurde, fochten die Kläger den Kaufvertrag wegen arglistiger Täuschung an und zogen im Jahr 2008 vor das Landgericht Nürnberg-Fürth.

Dort hatten sie mit ihrer Klage auf Rückgängigmachung des Kaufvertrags über die Eigentumswohnung und Ersatz der hierfür getätigten Aufwendungen zunächst keinen Erfolg: Weder konnte das Landgericht erkennen, dass die beklagte Vermittlungsgesellschaft Mängel der Wohnung arglistig verschwiegen hatte, noch sah es die Beklagte wegen ungenügender Aufklärung und Finanzierungsberatung in der Pflicht, Schadensersatz an die Kläger zu leisten.

Ganz anders wurde die Sach- und Rechtslage erst in der Berufungsinstanz bei dem Oberlandesgericht Nürnberg beurteilt. Nachdem die Kläger dort eingehend von den Richtern des Zweiten Senats unter dem Vorsitz von Dr. Ulrich Dettenhofer zu den Umständen des Immobilienkaufs befragt worden waren, stellte sich nämlich jetzt erst heraus, dass sie die streitgegenständliche Eigentumswohnung gar nicht isoliert erworben hatten, sondern lediglich, um hierdurch „Eigenkapital“ für den angestrebten Kauf „ihres“ Reihenhauses zu generieren. Auch wurde offenkundig, dass die beklagte Gesellschaft selbst gerade einmal fünf Tage vor dem Notartermin mit den Klägern die für 129.000,00 € veräußerte Eigentumswohnung im Wege der Zwangsversteigerung zum Preis von 49.000,00 € erworben hatte.

Als „vorsätzliche sittenwidrige Schädigung“ wertete der Zweite Senat das Oberlandesgerichts Nürnberg mit Urteil vom 23.03.2011 dieses Verhalten der Beklagten und sprach den Klägern Schadensersatz zu. Die Empfehlung der Beraterin B., das für den Erwerb eines Hauses fehlende Eigenkapital durch den gleichzeitigen Ankauf einer ebenfalls voll fremdfinanzierten Eigentumswohnung zu generieren, könne „nur als grotesk“ bezeichnet werden. Nach Auffassung des Senats hätte keine seriös arbeitende Bank in Kenntnis der wahren Verhältnisse der Kläger diesen gleichzeitigen Ankauf zweier Objekte finanziert. Dabei habe sich die Beraterin unter dem Deckmantel, trotz fehlenden Eigenkapitals eine Möglichkeit für den Erwerb eines Eigenheims gefunden zu haben, in das Vertrauen der Kläger eingeschlichen. Die damit einhergehende Existenzgefährdung der Kläger sei ihr völlig gleichgültig gewesen. Ihr und ihrem Ehemann, mit dem sie arbeitsteilig die Ersteigerung und den sofortigen Weiterverkauf der Eigentumswohnung betrieben habe, sei es ausschließlich um Gewinnmaximierung gegangen. Ein derartiges Geschäftsgebaren verstoße „massiv gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden“. Das Verhalten ihrer Mitarbeiter müsse sich die beklagte Gesellschaft zurechnen lassen. Diese hat nunmehr die Wohnung zurückzunehmen und ca. 140.000,00 € an die Kläger zu leisten.

Oberlandesgericht Nürnberg, Urteil vom 23.03.2011, – 2 U 417/10 –

Quelle: OLG Nürnberg PM Nr. 13 vom 01.04.2011

Falsche Anrede bei Ablehnung einer Bewerberin mit Migrationshintergrund indiziert keine Diskriminierung

Die Klägerin bewarb sich bei der Beklagten um die Stelle als lebensmitteltechnische Assistentin. Ihre Bewerbung wurde abgelehnt. In dem Ablehnungsschreiben wurde sie unzutreffend mit „Sehr geehrter Herr“ angeredet. Sie ist der Ansicht, aus dieser Anrede ergebe sich, dass sie wegen ihres Migrationshintergrunds nicht eingestellt worden sei. Aus ihrer mit Foto ingereichten Bewerbung gehe eindeutig hervor, dass sie weiblich sei. Dies belege, dass man ihre Bewerbung offensichtlich keines Blickes gewürdigt und diese wegen ihres bereits aus dem Namen sich ergebenden Migrationshintergrundes aussortiert habe. Mit der Klage hat sie eine Entschädigung in Höhe von 5.000,00 € verlangt.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen.

Ein Entschädigungsanspruch gemäß § 15 Abs. 2 AGG setzt voraus, dass die Klägerin wegen eines der in § 1 AGG genannten Merkmale wie der Rasse oder ethnischen Herkunft benachteiligt worden ist. Nach der Beweislastregel des § 22 AGG genügt es dabei, dass der Arbeitnehmer Tatsachen vorträgt, aus denen sich nach allgemeiner Lebenserfahrung eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine solche Benachteiligung ergibt. Dann muss der Arbeitgeber nachweisen, dass keine Benachteiligung vorliegt. Das Arbeitsgericht hat entschieden, dass der Vortrag der Klägerin für eine solche Beweislastverlagerung nicht ausreicht. Die Verwechslung in der Anrede lasse keine Benachteiligung wegen der Rasse oder der ethnischen Herkunft vermuten. Es sei genauso wahrscheinlich, wenn nicht sogar näher liegend, dass der falschen Anrede in dem Ablehnungsschreiben ein schlichter Fehler bei der Bearbeitung dieses Schreibens zu Grunde lag.

ArbG Düsseldorf, Urteil vom 09.03.2011, – 14 Ca 908/11 –

Quelle: ArbG Düsseldorf, PM Nr. 16/11 vom 22.03.2011

Tarifliche Altersgrenze von 65 Jahren ist wirksam

Das Landesarbeitsgericht Hamburg hat heute auf die Berufung der Hamburger Hochbahn AG das Urteil des Arbeitsgerichts Hamburg vom 26.07.2010 abgeändert und die Klage eines Mitarbeiters, der sich gegen die Beendigung seines Arbeitsverhältnisses wegen Erreichens der tariflichen Altersgrenze gewendet hatte, abgewiesen.

Der Mitarbeiter Herr A.-R. erreichte im Mai 2010 das 65. Lebensjahr und begehrte die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses über das 65. Lebensjahr hinaus. Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben und die Tarifnorm des § 20 Abs. 5 MTV Hochbahn wegen Verstosses gegen § 10 AGG für unwirksam angesehen.

Dem ist das Landesarbeitsgericht nicht gefolgt. Es hat angenommen, dass die Vorschrift des § 20 Abs. 5 MTV Hochbahn rechtswirksam ist und das Arbeitsverhältnis zum Ablauf des 31.05.2010 beendet wurde. Ein Sachgrund für die Befristung des Arbeitsverhältnisses bis zur Erreichung der Regelaltersgrenze liege gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. TzBfG vor, denn das Erreichen der Regelaltersgrenze sei nach der Rechtsprechung des BAG ein in der Person des Arbeitnehmers liegender Grund, der die Befristung rechtfertige. Die dadurch vorliegende Ungleichbehandlung wegen des Alters sei gemäß § 10 S. 3 Nr. 5 AGG gerechtfertigt. Die vorgenannte Vorschrift sei anzuwenden, da sie nicht gegen höherrangiges Gemeinschaftsrecht verstoße. § 10 S. 3 Nr. 5 AGG sei eine taugliche, europarechtskonforme Gesetzesgrundlage für tarifvertragliche Altersgrenzen. § 20 Abs. 5 MTV Hochbahn verfolge ausweislich der Protokollnotiz primär arbeitsmarktpolitische Ziele; neben der Förderung der Beschäftigungsverteilung zwischen den Generationen solle damit auch ein positiver Beitrag zur Reduzierung der Arbeitslosigkeit geleistet werden. Diese Ziele gingen unter Anwendung der Rechtsprechung des EuGH nicht über das hinaus, was zur Erreichung der verfolgten Ziele erforderlich sei, wenn der weite Ermessensspielraum berücksichtigt werde, der den Mitgliedsstaaten und den Sozialpartnern auf dem Gebiet der Sozial- und Beschäftigungspolitik zur Verfügung zustehe.

Die Revision wurde nicht zugelassen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen zur Zulassung der Revision nicht gegeben seien. Die Berufungskammer folge der einschlägigen höchstrichterlichen Rechtsprechung.

LAG Hamburg, Urteil vom 22.02.2011, – 4 Sa 76/10 –

Quelle: LAG Hamburg PM vom 22.02.2011

Berücksichtigung des Geschlechts von Versicherten als Risikofaktor wirkt diskriminierend

Die Richtlinie 2004/113/EG untersagt jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen.

So verbietet sie grundsätzlich die Berücksichtigung des Geschlechts als Kriterium für die Berechnung von Prämien und Leistungen nach dem 21.12.2007 geschlossener Versicherungsverträge. Allerdings sieht sie in Abweichung davon vor, dass die Mitgliedstaaten ab diesem Datum Ausnahmen von der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen zulassen können, sofern sie sicherstellen können, dass die zugrunde liegenden versicherungsmathematischen und statistischen Daten, auf die sich ihre Berechnungen stützen, verlässlich sind, regelmäßig aktualisiert werden und der Öffentlichkeit zugänglich sind. Diese Ausnahmen waren nur dann zulässig, wenn das nationale Recht die Regel der Geschlechtsneutralität bis dahin noch nicht vorsah. Fünf Jahre nach Umsetzung der Richtlinie, also zum 21.12.2012, müssen die Mitgliedstaaten prüfen, inwieweit diese Ausnahmen noch gerechtfertigt sind, wobei die neuesten versicherungsmathematischen und statistischen Daten sowie der von der Kommission drei Jahre nach Umsetzung der Richtlinie vorgelegte Bericht zu berücksichtigen sind.

Die Association belge des consommateurs Test-Achats ASBL und zwei Privatpersonen erhoben vor dem belgischen Verfassungsgerichtshof Klage auf Nichtigerklärung des belgischen Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie. Im Rahmen jener Klage hat das belgische Gericht dem Gerichtshof die Frage nach der Vereinbarkeit der in der Richtlinie enthaltenen Ausnahme mit höherrangigem Recht, nämlich dem im Unionsrecht verbürgten Grundsatz der Gleichheit von Frauen und Männern, vorgelegt.

In seinem Urteil vom heutigen Tag weist der Gerichtshof zunächst darauf hin, dass die Union nach Art. 8 AEUV bei allen ihren Tätigkeiten darauf hinwirkt, Ungleichheiten zu beseitigen und die Gleichstellung von Männern und Frauen zu fördern. Bei der schrittweisen Verwirklichung dieser Gleichheit ist es der Unionsgesetzgeber, der unter Berücksichtigung der Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in der Union den Zeitpunkt seines Tätigwerdens bestimmt. Der Gerichtshof stellt klar, dass der Unionsgesetzgeber in diesem Sinn in der Richtlinie vorgesehen hat, dass die Unterschiede bei den Prämien und Leistungen, die sich aus der Berücksichtigung des Faktors Geschlecht bei ihrer Berechnung ergeben, bis spätestens zum 21.12.2007 abgeschafft werden mussten. Da jedoch zur Zeit des Erlasses der Richtlinie die Anwendung geschlechtsspezifischer versicherungsmathematischer Faktoren im Bereich des Versicherungswesens weit verbreitet war, stand es dem Unionsgesetzgeber frei, die Anwendung der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen stufenweise mit angemessenen Übergangszeiten umzusetzen.

Dazu weist der Gerichtshof darauf hin, dass die Richtlinie in Abweichung von der mit ihr eingeführten Grundregel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumte, vor dem 21.12.2007 zu beschließen, proportionale Unterschiede für die Versicherten dann zuzulassen, wenn die Berücksichtigung des Geschlechts bei einer auf relevanten und genauen versicherungsmathematischen und statistischen Daten beruhenden Risikobewertung ein bestimmender Faktor ist.

Diese Möglichkeit wird fünf Jahre nach dem 21.12.2007 überprüft, wobei einem Bericht der Kommission Rechnung zu tragen ist, doch dürfen die Mitgliedstaaten, die von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht haben, den Versicherern gestatten, diese Ungleichbehandlung unbefristet zu praktizieren, da die Richtlinie keine Bestimmung über die Anwendungsdauer dieser Unterschiede enthält.

Damit besteht nach Ansicht des Gerichtshofs die Gefahr, dass die in der Richtlinie vorgesehene Ausnahme von der Gleichbehandlung von Frauen und Männern nach dem Unionsrecht unbefristet zulässig ist. Eine Bestimmung, die es den betreffenden Mitgliedstaaten gestattet, eine Ausnahme von der Regel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen unbefristet aufrechtzuerhalten, läuft jedoch der Verwirklichung des Ziels der Gleichbehandlung von Frauen und Männern zuwider und ist daher nach Ablauf einer angemessenen Übergangszeit als ungültig anzusehen.

Der Gerichtshof erklärt deshalb die Ausnahme von der Grundregel geschlechtsneutraler Prämien und Leistungen im Versicherungssektor für mit Wirkung vom 21.12.2012 ungültig.

EuGH, Urteil vom 01.03.2011, C-236/09

Quelle: EUGH PM Nr. 12/11 vom 01.03.2011

Zum Volltext der Entscheidung geht es hier.

Betriebsübergang: Für das Fortsetzungsverlangen gegenüber dem Betriebserwerber gilt die Widerspruchsfrist des § 613 a Abs. 6 BGB entsprechend

Ein Arbeitnehmer, der von einem Betriebserwerber die Fortsetzung seines Arbeitsverhältnisses verlangt, weil dieser infolge des Betriebsübergangs sein neuer Arbeitgeber ist, hat die Fristen zu beachten, die er für einen Widerspruch gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses einzuhalten hätte.

Die Klägerin hatte seit knapp zehn Jahren ein Arbeitsverhältnis bei der V-GmbH in Magdeburg. Die V-GmbH führte in einem der Beklagten gehörenden Druckzentrum die „Kleinpaketfertigung“ durch, in der die Klägerin als Arbeiterin beschäftigt war. Die Beklagte kündigte die Verträge mit der V-GmbH zum 31.03.2007 und übernahm ab 01.04.2007 die Kleinpaketfertigung in ihrem Druckzentrum „in Eigenregie“. Ab diesem Zeitpunkt setzte die Beklagte Mitarbeiter eines Leiharbeitsunternehmens bei der Kleinpaketfertigung ein; bei der V-GmbH verbliebene Mitarbeiter erhielten zum Druckzentrum keinen Zutritt mehr. Nach Freistellung kündigte die V-GmbH am 31.07.2007 das Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fristgerecht. Dagegen erhob die Klägerin drei Wochen später Kündigungsschutzklage und machte gegen die Beklagte geltend, wegen eines Betriebsübergangs am 01.04.2007 sei ihr Arbeitsverhältnis zu diesem Zeitpunkt auf die Beklagte übergegangen und von dieser fortzusetzen.

Das Landesarbeitsgericht hatte dem Fortsetzungsverlangen der Klägerin entsprochen. Die Revision der Beklagten blieb ohne Erfolg. Da zu Recht ein Betriebsteilübergang auf die Beklagte festgestellt wurde, muss diese das auf sie übergegangene Arbeitsverhältnis mit der Klägerin fortsetzen. Der entsprechende Antrag der Klägerin war weder verfristet noch verwirkt. Über einen Betriebsübergang müssen Betriebsveräußerer bzw. Betriebserwerber die betroffenen Arbeitnehmer unterrichten, § 613a Abs. 5 BGB. Erfolgt eine solche Unterrichtung wie vorliegend überhaupt nicht, so beginnt weder die Monatsfrist des § 613a Abs. 6 BGB für den Widerspruch gegen den Übergang des Arbeitsverhältnisses zu laufen, noch eine Frist, binnen derer der Anspruch auf Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gegen den Betriebserwerber gerichtet werden muss. Allerdings können die entsprechenden Erklärungen unter Umständen verwirkt sein, wofür aber vorliegend keine Anhaltspunkte vorgetragen worden waren.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 27.01.2011, – 8 AZR 326/09 –

Quelle: BAG PM Nr. 09/11 vom 27.01.2011

Arbeitnehmer haben bei lang andauernder Arbeitsunfähigkeit keinen Anspruch auf Weiternutzung des Dienstwagens

Räumt der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer das Recht ein, den überlassenen Dienstwagen privat zu nutzen, stellt dies einen geldwerten Vorteil und Sachbezug dar. Der Arbeitnehmer kann nach § 275 Abs. 1 i.V.m. §§ 280 Abs. 1 Satz 1, 283 Satz 1 BGB Nutzungsausfallentschädigung in Höhe der steuerlichen Bewertung der privaten Nutzungsmöglichkeit verlangen, wenn ihm der Arbeitgeber das Fahrzeug vertragswidrig entzieht.

Der Kläger ist bei der Beklagten als Bauleiter beschäftigt. Die Beklagte stellt ihm arbeitsvertraglich für seine Tätigkeit einen Pkw „auch zur privaten Nutzung“ zur Verfügung. In der Zeit vom 03.03.2008 bis einschließlich 14.12.2008 war der Kläger arbeitsunfähig erkrankt. Sein Entgeltfortzahlungsanspruch endete zum 13.04.2008. Auf Verlangen der Beklagten gab er den Pkw am 13.11.2008 zurück. Die Beklagte überließ dem Kläger erst nach Wiederaufnahme der Arbeit am 18.12.2008 wieder einen Dienstwagen auch zur privaten Nutzung. Der Kläger verlangt Nutzungsausfallentschädigung für die Zeit vom 13.11. bis 15.12.2008. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen.

Die Revision des Klägers war vor dem Neunten Senat ohne Erfolg. Die Gebrauchsüberlassung eines Pkw zur privaten Nutzung ist zusätzliche Gegenleistung für die geschuldete Arbeitsleistung. Sie ist steuer- und abgabenpflichtiger Teil des geschuldeten Arbeitsentgelts und damit Teil der Arbeitsvergütung. Damit ist sie regelmäßig nur so lange geschuldet, wie der Arbeitgeber überhaupt Arbeitsentgelt schuldet. Das ist für Zeiten der Arbeitsunfähigkeit, für die keine Entgeltfortzahlungspflicht mehr nach § 3 Abs. 1 EFZG besteht, nicht der Fall.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 14.12.2010, – 9 AZR 631/09 –

Quelle: BAG PM Nr. 91/10 vom 14.12.2010

Unzulässige Überwachung des Arbeitsplatzes: Arbeitnehmer kann Entschädigung verlangen

Das Hessische Landesarbeitsgericht hat einen Arbeitgeber zur Zahlung einer Entschädigung von 7.000,00 € verurteilt, weil er eine Mitarbeiterin mindestens seit Juni 2008 an ihrem Arbeitsplatz permanent mit einer Videokamera überwachte. Die 24 – jährige kaufmännische Angestellte arbeitete in einer hessischen Niederlassung eines bundesweit aktiven Unternehmens. Gegenüber der Eingangstür des Büros hatte der Arbeitgeber eine Videokamera angebracht, die nicht nur auf den Eingangsbereich, sondern im Vordergrund auch auf den Arbeitsplatz der Klägerin gerichtet war. Mit der im Oktober 2008 eingegangenen Klage machte die Mitarbeiterin Schadensersatzansprüchen wegen Persönlichkeitsverletzung geltend. Das Arbeitsgericht verurteilte den Arbeitgeber zur Zahlung einer Entschädigung von 15.000,00 €.

Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung hatte nur zum Teil Erfolg. Weder das Arbeitsgericht noch das Landesarbeitsgericht ließen die Einwendungen des Arbeitgebers gelten. Der Arbeitgeber hatte sich im Prozess damit verteidigt, dass die Kamera nicht ständig in Funktion gewesen und nur zur Sicherheit der Mitarbeiter angebracht worden sei, weil es in der Vergangenheit schon zu Übergriffen auf Mitarbeiter gekommen sei. Dennoch, so argumentierte das Hessische Landesarbeitsgericht, sei der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht der Mitarbeiterin unverhältnismäßig. Eine Ausrichtung der Kamera nur auf den Eingangsbereich des Büros wäre möglich gewesen. Es sei auch unerheblich, dass die Kamera nicht ständig in Funktion war. Allein die Unsicherheit darüber, ob die Kamera tatsächlich aufzeichne oder nicht, habe die Mitarbeiterin einem ständigen Anpassungund Überwachungsdruck ausgesetzt, den sie nicht hinnehmen musste, nachdem sie sich bereits früh gegen die Installation der Videokamera gewandt hatte. Es handele es um eine schwerwiegende und hartnäckige Verletzung des informationellen Selbstbestimmungsrechts, die nach Abwägung aller Umstände die Verurteilung zu einer Entschädigung von 7.000,00 € rechtfertige. Die Zubilligung einer Geldentschädigung im Falle einer solchen schweren Persönlichkeitsrechtsverletzung beruhe auf dem Gedanken, dass ohne einen Entschädigungsanspruch Verletzungen der Würde und Ehre des Menschen häufig ohne Sanktionen blieben mit der Folge, dass der Rechtsschutz der Persönlichkeit verkümmern würde. Bei der Entschädigung stehe regelmäßig der Gesichtspunkt der Genugtuung des Opfers im Vordergrund.

Hessisches LAG, Urteil vom 25.10.2010, – 7 Sa 1586/09 –

Quelle: LAG Hessen PM Nr. 02/11 vom 26.01.2011

Unrechtmäßiges Einlösen von Pfandbons (Wert: 1,30 €) durch Kassiererin rechtfertigt im Fall „Emmely“ keine fristlose Kündigung

Ein vorsätzlicher Verstoß des Arbeitnehmers gegen seine Vertragspflichten kann eine fristlose Kündigung auch dann rechtfertigen, wenn der damit einhergehende wirtschaftliche Schaden gering ist. Umgekehrt ist nicht jede unmittelbar gegen die Vermögensinteressen des Arbeitgebers gerichtete Vertragspflichtverletzung ohne Weiteres ein Kündigungsgrund. Maßgeblich ist § 626 Abs. 1 BGB. Danach kann eine fristlose Kündigung nur aus „wichtigem Grund“ erfolgen. Das Gesetz kennt in diesem Zusammenhang keine „absoluten Kündigungsgründe“. Ob ein „wichtiger Grund“ vorliegt, muss vielmehr nach dem Gesetz „unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der Interessen beider Vertragsteile“ beurteilt werden. Dabei sind alle für das jeweilige Vertragsverhältnis in Betracht kommenden Gesichtspunkte zu bewerten. Dazu gehören das gegebene Maß der Beschädigung des Vertrauens, das Interesse an der korrekten Handhabung der Geschäftsanweisungen, das vom Arbeitnehmer in der Zeit seiner unbeanstandeten Beschäftigung erworbene „Vertrauenskapital“ ebenso wie die wirtschaftlichen Folgen des Vertragsverstoßes; eine abschließende Aufzählung ist nicht möglich. Insgesamt muss sich die sofortige Auflösung des Arbeitsverhältnisses als angemessene Reaktion auf die eingetretene Vertragsstörung erweisen. Unter Umständen kann eine Abmahnung als milderes Mittel zur Wiederherstellung des für die Fortsetzung des Vertrags notwendigen Vertrauens in die Redlichkeit des Arbeitnehmers ausreichen.In Anwendung dieser Grundsätze hat der Zweite Senat des Bundesarbeitsgerichts – anders als die Vorinstanzen – der Klage der Kassiererin eines Einzelhandelsgeschäfts stattgegeben, die ihr nicht gehörende Pfandbons im Wert von insgesamt 1,30 Euro zum eigenen Vorteil eingelöst hat. Die Klägerin war seit April 1977 bei der Beklagten und deren Rechtsvorgängerinnen als Verkäuferin mit Kassentätigkeit beschäftigt. Am 12. Januar 2008 wurden in ihrer Filiale zwei Leergutbons im Wert von 48 und 82 Cent aufgefunden. Der Filialleiter übergab die Bons der Klägerin zur Aufbewahrung im Kassenbüro, falls sich ein Kunde noch melden sollte. Sie lagen dort sichtbar und offen zugänglich. Nach den Feststellungen der Vorinstanzen reichte die Klägerin die beiden Bons bei einem privaten Einkauf zehn Tage später bei der kassierenden Kollegin ein. Diese nahm sie entgegen, obwohl sie, anders als es aufgrund einer Anweisung erforderlich gewesen wäre, vom Filialleiter nicht abgezeichnet worden waren. Im Prozess hat die Klägerin bestritten, die Bons an sich genommen zu haben, und darauf verwiesen, sie habe sich möglicherweise durch Teilnahme an gewerkschaftlichen Aktionen Ende 2007 unbeliebt gemacht. Vor der Kündigung hatte sie zur Erklärung ins Feld geführt, die Pfandbons könnten ihr durch eine ihrer Töchter oder eine Kollegin ins Portemonnaie gesteckt worden sein. Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis ungeachtet des Widerspruchs des Betriebsrats wegen eines dringenden Tatverdachts fristlos, hilfsweise fristgemäß.

Die Kündigung ist unwirksam. Die mit einer sogenannten „Verdachtskündigung“ verbundenen Fragen stellten sich dabei in der Revisionsinstanz nicht, weil das Landesarbeitsgericht – für den Senat bindend – festgestellt hat, dass die Klägerin die ihr vorgeworfenen Handlungen tatsächlich begangen hat. Der Vertragsverstoß ist schwerwiegend. Er berührte den Kernbereich der Arbeitsaufgaben einer Kassiererin und hat damit trotz des geringen Werts der Pfandbons das Vertrauensverhältnis der Parteien objektiv erheblich belastet. Als Einzelhandelsunternehmen ist die Beklagte besonders anfällig dafür, in der Summe hohe Einbußen durch eine Vielzahl für sich genommen geringfügiger Schädigungen zu erleiden. Dagegen konnte das Prozessverhalten der Klägerin nicht zu ihren Lasten gehen. Es lässt keine Rückschlüsse auf eine vertragsrelevante Unzuverlässigkeit zu. Es erschöpfte sich in einer möglicherweise ungeschickten und widersprüchlichen Verteidigung. Letztlich überwiegen angesichts der mit einer Kündigung verbundenen schwerwiegenden Einbußen die zu Gunsten der Klägerin in die Abwägung einzustellenden Gesichtspunkte. Dazu gehört insbesondere die über drei Jahrzehnte ohne rechtlich relevante Störungen verlaufene Beschäftigung, durch die sich die Klägerin ein hohes Maß an Vertrauen erwarb. Dieses Vertrauen konnte durch den in vieler Hinsicht atypischen und einmaligen Kündigungssachverhalt nicht vollständig zerstört werden. Im Rahmen der Abwägung war auch auf die vergleichsweise geringfügige wirtschaftliche Schädigung der Beklagten Bedacht zu nehmen, so dass eine Abmahnung als milderes Mittel gegenüber einer Kündigung angemessen und ausreichend gewesen wäre, um einen künftig wieder störungsfreien Verlauf des Arbeitsverhältnisses zu bewirken.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 10.06.2010, – 2 AZR 541/09 –
Quelle: BAG PM Nr. 42/10 vom 10.06.2010

Zum Volltext der Entscheidung geht es hier.

Kündigung eines Arbeitnehmers wegen HIV-Infektion kann wirksam sein und verstößt nicht zwingend gegen das AGG

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat die Kündigung eines Arbeitnehmers mit HIV-Infektion, die während der Probezeit ausgesprochen wurde, für wirksam gehalten und auch die Klage auf Entschädigung wegen eines Verstoßes gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) abgewiesen.

Der Arbeitnehmer wurde von einem Pharmaunternehmen als chemisch-technischer Assistent beschäftigt und bei der Herstellung von Medikamenten im „Reinbereich“ eingesetzt. Der Arbeitgeber hatte für diesen Fertigungsbereich allgemein festgelegt, dass Arbeitnehmer mit Erkrankungen jedweder Art – insbesondere auch Arbeitnehmer mit HIV-Infektion – nicht beschäftigt werden dürfen. Er kündigte das Arbeitsverhältnis unter Einhaltung der Kündigungsfrist während der Probezeit, nachdem er von der HIV-Infektion des Arbeitnehmers erfahren hatte.

Das Landesarbeitsgericht hat die Kündigung für rechtswirksam gehalten. Die Kündigung sei nicht willkürlich und verstoße deshalb nicht gegen den Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 BGB). Dem Arbeitgeber könne nicht verwehrt werden, für die Medikamentenherstellung allgemein den Einsatz erkrankter Arbeitnehmer auszuschließen. Die Entscheidung, einen dauerhaft mit dem HI-Virus infizierten Arbeitnehmer zu entlassen, sei auf dieser Grundlage nicht zu beanstanden. Da auf das Arbeitsverhältnis das Kündigungsschutzgesetz keine Anwendung finde, komme es auf die soziale Rechtfertigung der Kündigung nicht an.

Dem Arbeitnehmer stehe auch eine Entschädigung nach dem AGG nicht zu. Dabei könne dahinstehen, ob die bloße HIV-Infektion eine Behinderung im Sinne des AGG darstelle und ob der Arbeitnehmer im Vergleich zu anderen erkrankten Arbeitnehmern ungleich behandelt worden sei. Denn eine – einmal angenommene – Ungleichbehandlung des Arbeitnehmers sei wegen des Interesses des Arbeitgebers, jedwede Beeinträchtigung der Medikamentenherstellung durch erkrankte Arbeitnehmer auszuschließen, gerechtfertigt.

Das Landesarbeitsgericht hat die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen.

Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13.01.2012, – 6 Sa 2159/11 –

Quelle: LAG Berlin-Brandenburg PM Nr. 5 vom 13.01.2012

Kleinbetriebsklausel verstößt auch bei Unternehmen mit mehreren Betriebsstätten nicht gegen Art. 3 GG

Nach § 23 Abs. 1 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) genießen Arbeitnehmer in Betrieben, in denen in der Regel nur zehn oder weniger Arbeitnehmer beschäftigt sind, keinen Kündigungsschutz. Die darin liegende Ungleichbehandlung zwischen Arbeitnehmern größerer und kleinerer Betriebe verstößt nicht gegen Art. 3 GG. Sie ist sachlich gerechtfertigt, weil Kleinbetriebe typischerweise durch enge persönliche Zusammenarbeit, geringere Finanzausstattung und einen Mangel an Verwaltungskapazität geprägt sind. Auch wenn ein Unternehmer mehrere Kleinbetriebe unterhält, werden die Zahlen der dort Beschäftigten nicht automatisch zusammengerechnet, wenn es sich tatsächlich um organisatorisch hinreichend verselbständigte Einheiten und deshalb um selbständige Betriebe handelt. Es ist aber sicherzustellen, dass damit aus dem Geltungsbereich des Gesetzes nicht auch Einheiten größerer Unternehmen herausfallen, auf die die typischen Merkmale des Kleinbetriebs (enge persönliche Zusammenarbeit etc.) nicht zutreffen. Das wiederum ist nicht stets schon dann der Fall, wenn dem Betrieb auch nur eines dieser typischen Merkmale fehlt. Maßgebend sind vielmehr die Umstände des Einzelfalls.

Die Beklagte beschäftigte an ihrem Sitz in Leipzig mindestens acht, an ihrem Standort Hamburg sechs Arbeitnehmer. Im Januar 2006 setzte sie in Hamburg einen vor Ort mitarbeitenden Betriebsleiter ein, den sie – wie sie behauptet hat – bevollmächtigte, dort Einstellungen und Entlassungen vorzunehmen. Der Kläger war in der Betriebsstätte Hamburg seit 1990 als Hausmeister und Haustechniker tätig. Ein vergleichbarer Arbeitnehmer wurde im Jahr 2003 eingestellt, ist deutlich jünger als der Kläger und – anders als dieser – keiner Person zum Unterhalt verpflichtet. Im März 2006 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis mit dem Kläger unter Berufung auf betriebliche Gründe. Die Vorinstanzen haben der Klage wegen unzureichender Sozialauswahl stattgegeben. Das Landesarbeitsgericht hat das Kündigungsschutzgesetz für anwendbar gehalten, weil die Kapitalausstattung der Beklagten nicht gering gewesen sei und ihr Geschäftsführer in Hamburg nicht mitgearbeitet habe.

Die Revision der Beklagten war vor dem Zweiten Senat des Bundesarbeitsgerichts erfolgreich. Sie führte zur Zurückverweisung der Sache an das Landesarbeitsgericht. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen ist es im Streitfall nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen geboten, beide Betriebstätten auch dann als einheitlichen Betrieb im kündigungsschutzrechtlichen Sinne anzusehen, wenn sie organisatorisch selbständig sind. Ob dies zutrifft, bedarf weiterer Feststellungen durch das Landesarbeitsgericht.

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 28.10.2010, – 2 AZR 392/08 –

Quelle: BAG PM Nr. 83/10 vom 28.10.2010

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Fristlose Kündigung wegen Vergleichs der betrieblichen Zustände „wie im Dritten Reich“

Nach einer Entscheidung des Hessischen Landesarbeitsgerichts kann eine fristlose Kündigung gerechtfertigt sein, wenn ein Arbeitnehmer gegenüber seinem Arbeitgeber in öffentlicher Sitzung erklärt „er lüge wie gedruckt; wie er mit Menschen umgehe, da komme er – der Mitarbeiter – sich vor wie im Dritten Reich“ .

Hintergrund des Rechtsstreits war, dass ein 47- jährige Fahrzeugführer nach mehr als 30 -jähriger Beschäftigung gegen seinen Arbeitgeber wegen einer ihm ausgesprochenen Kündigung Klage erhoben hatte. Im Kammertermin vor dem Arbeitsgericht am 20. Februar 2007 äußerte er in Anwesenheit des Arbeitgebers und seiner Prozessbevollmächtigten: „Die Beklagte lügt wie gedruckt. Wie sie mit Menschen umgeht, da komme ich mir vor wie im Dritten Reich“. Einer Aufforderung des Kammervorsitzenden, den Saal zu verlassen oder sachlich weiter zu verhandeln, folgte der Mitarbeiter nicht. Der Arbeitgeber nahm die Äußerung zum Anlass, dem Mitarbeiter Ende Februar 2007 erneut fristlos zu kündigen.

Das Arbeitsgericht hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen.Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Auch das Hessische Landesarbeitsgericht hielt die Kündigung für wirksam. Grobe Beleidigungen des Arbeitgebers und/oder seiner Vertreter oder Repräsentanten könnten eine außerordentliche fristlose Kündigung an sich rechtfertigen.

Das Grundrecht der Meinungsfreiheit werde regelmäßig zurücktreten müssen, wenn sich die Äußerungen als Angriff auf die Menschenwürde oder als eine Formalbeleidigung oder eine Schmähung darstellten. Der Vergleich betrieblicher Verhältnisse und Vorgehensweisen mit dem nationalsozialistischen Terrorsystem und erst recht mit den in Konzentrationslagern begangenen Verbrechen bilde in der Regel einen wichtigen Grund zur Kündigung. Die Gleichsetzung noch so umstrittener betrieblicher Vorgänge und der Vergleich des Arbeitgebers oder der für ihn handelnden Menschen mit dem vom Nationalsozialismus begangenen Verbrechen und den Menschen, die diese Verbrechen begingen, stelle eine grobe Beleidigung der damit angesprochenen Personen und zugleich eine Verharmlosung des in der Zeit des Faschismus begangenen Unrechtes und eine Verhöhnung seiner Opfer dar. Mit einer solchen Äußerung werde regelmäßig unterstellt, dass die Mitarbeiter bei dem Arbeitgeber willfährigen Handlangern unter dem NS-Regimes gleichzusetzen sind. Der gekündigte Mitarbeiter habe auch die Chance vertan, seine Schmähkritik auf Hinweis des Kammervorsitzenden umgehend oder wenigstens später zurückzunehmen.

Für die Gesamtabwägung sei auch von Bedeutung gewesen, dass der Kläger bereits in einem früheren Rechtsstreit mit seinem Arbeitgeber im Jahre 2004 das Hessische Landesarbeitsgericht als „korrupt“ beschimpft und es als „schlimmer als die Kommunisten“ bezeichnet habe.

LAG Hessen, Urteil vom 20.09.2010, – 3 Sa 243/10 –

Quelle: LAG Hessen PM Nr. 01/11 vom 19.01.2011





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